"Es war brutal schön, auf der anderen Seite hat es aber auch Klick gemacht"
Donnerstag, 04. Juni 2020, 10:00 Uhr
Christopher Avevor hat einen langen Weg hinter sich. Einen Weg, den er selbst als eine "Achterbahnfahrt" beschreibt. Ein Wadenbeinbruch und Syndesmosebandriss quälten den Kapitän des FC St. Pauli. In einer Presserunde sprach Avevor erstmals über seine schwere Verletzung und seine Rückkehr in den Profikader beim zurückliegenden 1:1 in Karlsruhe. Ein Prozess, der 303 Tage dauerte. Der Ball in der Ferne.
Das Fahnenmeer, viel Konfetti und "St. Pauli"-Rufe im Chor. Das Millerntor brodelt. Die Vorfreude auf die neue Saison steht 29.546 Menschen ins Gesicht geschrieben. Auch Christopher Avevor, der ganz vorne im Spielertunnel auf die "Hells Bells" wartet. Es ist sein 100. Pflichtspiel für die Profimannschaft des FC St. Pauli. Gong. Und zum ersten Mal führte der gebürtige Kieler seine Mannschaft mit der bunten Regenbogenfarben-Binde am linken Oberarm in einem Heimspiel auf das Grün. Es ist ein warmer Sommerabend. Bestes Fußballwetter. Avevor gewinnt auch noch die Seitenwahl gegen Fürths Marco Caligiuri. Die Vorzeichen für das Jubiläum hätten besser nicht sein können. Doch am Ende wurde der 2. August 2019 zu einem der schlimmsten Tage in seiner Karriere.
Es ist ein komisches Gefühl, wenn es in einem Fußballstadion plötzlich ganz still wird. Irgendwie erdrückend. Erst die Aufregung über die Fürther-Führung durch Daniel Keita-Ruel, weil die Gäste den Ball, nachdem Avevor verletzt liegengeblieben war, nicht ins Aus spielten. Dann die Sorge um den Kapitän, der sich offenkundig im vorangegangenen Zweikampf schwerer verletzt hatte. Nur noch Murmeln. Dann baut sich ganz langsam wie eine Welle das 'You'll never walk alone' auf. Ein berührender Millerntor-Moment. Avevor wird auf der Trage aus dem Stadion getragen. Die Faust geballt. Trotz starker Schmerzen applaudiert er seinem Publikum, dem er lange fehlen sollte.
"In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich für längere Zeit nicht spielen kann", erinnert sich 'Jackson' zehn Monate später. "Dass die Fans für mich gesungen haben, war auf der einen Seite brutal schön. Aber auf der anderen Seite hat es da bei mir Klick gemacht und die Situation ist mir bewusst geworden. Das war sehr traurig für mich." Das Spiel gegen Greuther Fürth ging mit 1:3 verloren. Der Kapitän ging für unbestimmte Zeit von Bord. Noch am selben Abend bestätigten sich nach Untersuchungen im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) die schlimmen Befürchtungen: Im Zweikampf mit Keita-Ruel hatte sich Avevor das linke Wadenbein gebrochen und das linke Syndesmoseband gerissen. Tiefpunkt.
Avevor stand vor einem langen Weg. Die Verletzung verdauen. Die Reha. Viel Geduld. Einige Rückschläge. "Es gab nicht die eine Phase in der Reha, die besonders schwer war", erklärt der Kiezkicker. "Bei so einer schweren Verletzung geht’s natürlich nicht immer nur Berg auf, sondern es ist eher eine Achterbahnfahrt. Mal wird es besser, mal wird es schlechter. Wenn man sehr ehrgeizig ist und wieder zurückwill, dann ist es sehr ärgerlich, wenn man wieder einen Schritt rausnehmen muss und auf die Bremse tritt."
Fußball ist Herzblut und Leidenschaft. Der Platz auf der Tribüne oder vor dem Fernseher für eine*n Profisportler*in kaum zu ertragen. Der Ball vor den Augen und doch so weit weg. "Als ich verletzt war, war ich gerne im Stadion und auch bei der Mannschaft. Aber jedem Spieler fällt es schwer, über so lange Zeit zum Zugucken verdammt zu sein", sagt Avevor. Doch das Lächeln kehrte zurück in sein Gesicht. Wenn er an der Kollau zu Besuch war. Beim Derbysieg zusah. Und schließlich, als er über das Kleingruppentraining auch zurück ins Mannschaftstraining kehrte.
Und obwohl die Saison 2019/20 für Avevor ohne die Corona-Pandemie beendet gewesen wäre, finde er nicht, dass selbige ihm bei seiner Rückkehr in die Karten gespielt hat. "Nach so langer Zeit war es für mich nicht möglich, beispielsweise über die U23, Spielpraxis zu sammeln", betont der Langzeitverletzte. "Der Fortschritt war sehr begrenzt, weil das Training reduziert war. Es gab keine Zweikämpfe und keine spielnahe Praxis."
Die erste Kadernominierung beim KSC am vergangenen Sonnabend (30.5.) war auch gut für den Kopf. Mit den Teamkollegen über den Platz zu schlendern. Sich auszutauschen. Der Duft des Rasens. Vielleicht auch das leichte Kribbeln im Bauch, dass sie heute passiert. Die Rückkehr an den geliebten Arbeitsplatz. Dennoch wird jeder Schritt mit Bedacht gewählt. Kommunikation lautet das Zauberwort. "Ich bin in einem engen Austausch mit dem Trainer", verrät Avevor. "Ich kann ehrlich sagen, wenn ich mal eine Pause brauche. Das ist sehr wertvoll. Ich weiß, dass ich jedes Training Vollgas geben kann."
Doch nun drängt die Personallage den Kapitän schon früh zurück ins Rampenlicht. James Lawrence (Muskelfaserriss) wird in Bochum fehlen, Daniel Buballa (Zerrung) und Sebastian Ohlsson (Schulterprellung) sind angeschlagen und fraglich. "Ich bin bereit und freue mich riesig darauf, wenn ich wieder spielen darf", sagt Avevor. "Es geht aber nicht um meine Person. Ich glaube Bochum wird schwer genug und wir müssen dringend die Punkte holen. Wenn ich dort helfen kann, freut mich das." Ob 'Jackson' wirklich eine Option für die Startelf in Bochum ist, wird das Trainerteam entscheiden und sich aus einem engen Austausch ergeben. Den Ball hat Christopher Avevor immer noch nur vor den Augen, aber er ist nicht mehr weit weg.
(ms)
Fotos: Witters