Kiezbeben-Geschichten: Die Rettung des Millerntor-Stadions
Freitag, 05. Juli 2019, 10:30 Uhr
Auf über 600 Quadratmetern erzählt die große Ausstellung KIEZBEBEN im FC St. Pauli-Museum in der Gegengerade, wie der FC St. Pauli wurde, was er heute ist: „Die zweite Geburt des FC St. Pauli“, so der Untertitel der Ausstellung. Aufwändig inszeniert und recherchiert, lässt sie ihre Besucher braun-weiße Geschichte und Geschichten neu erleben – mit etlichen Original-Ausstellungsstücken, in Film, Foto und Text. Einige der schönsten KIEZBEBEN-Stories erzählen wir hier auf fcstpauli.com. Diesmal geht es 30 Jahre zurück – in ein Jahr, in dem das engagierte Einschreiten von Fans und Viertelbewohnern das Millerntor-Stadion vor dem Abriss bewahrte.
Januar 1989: Dem FC St. Pauli geht es so gut wie lange nicht mehr. Die Bundesliga-Hinrunde hat der frischgebackene Aufsteiger auf Platz 10 abgeschlossen. Ungewollt und ungeplant sind das Team von Trainer Helmut Schulte und die ungewöhnlichen Fans zu Medienstars geworden.
Der Ticketverkauf boomt: Kamen wenige Jahre zuvor manchmal weniger als tausend Besucher zu den Heimspielen, ist das Millerntor mit seiner 1988 errichteten Sitzplatz-Zusatztribüne hinter den Stehtraversen der Gegengerade nun öfters sogar ausverkauft – eine Steigerung des Zuschauerschnitts um mehrere hundert Prozent. Das unmoderne, aber gemütliche Stadion mit dem „Ganz dicht dran“-Erlebnis trägt dazu bei, dass viele neue Fans das Millerntor entdecken.
Eigentlich Grund genug für die Vereinsführung, sich entspannt zurückzulehnen, die Dinge laufen zu lassen und den Erfolg zu genießen. Doch es kommt anders: Gerade erst ist der „Mythos St. Pauli“ in den bundesweiten Wohnzimmern angekommen – da gibt Präsident Otto Paulick im Januar 1989 auf einer Pressekonferenz die Absicht bekannt, das heißgeliebte Millerntor-Stadion abzureißen und stattdessen eine supermoderne Multifunktionsarena namens „Sport Dome“ zu errichten – mit 50.000 Plätzen, Hotel, Kongressräumen, Einkaufszentrum und Tiefgarage.
Im Viertel erhebt sich ein Sturm der Empörung. Neben dem Verlust der gerade erst entstehenden neuen Fankultur und Vereinsidentität befürchteten viele St. Paulianer*innen durch das Riesenprojekt Verkehrschaos und steigende Mieten. Und wer sich an den damals gerade erst zehn Jahre zurückliegenden Absturz in Liga 3 erinnert (in der KIEZBEBEN-Ausstellung im „Vorbeben“ zu sehen), dem wird Angst und Bange: Woher soll das Geld für ein solches Vorhaben kommen? Soll sich der FC St. Pauli mit Haut und Haaren irgendwelchen Finanzinvestoren verkaufen?
Im März 1989 organisieren St. Pauli-Fans einen Schweigeprotest gegen das 500-Millionen-D-Mark-Projekt beim Heimspiel gegen den Karlsruher SC. Motto: „Entweder Sport Dome oder wir!“ Flugblätter, Transparente, Demos: In bis dahin nie gekannter Weise machen Fans und Viertelbewohner ihrem Ärger Luft. Und tatsächlich: Nur zwei Monate später stampft das Präsidium die Pläne ein. Von den „Erlebniswelten“, die die Stadionplaner wenige Monate zuvor versprachen, will Präsident Otto Paulick nun nichts mehr wissen: „Bei diesem Gerede wird mir ganz elend“, diktiert er der Presse in den Notizblock.
Der Protest gegen den Sport-Dome ist so etwas wie die Geburtsstunde der organisierten Fanszene beim FC St. Pauli. Die wichtige Lektion, dass vereinter Widerstand Aussicht auf Erfolg hat, beflügelt weitere Aktionen – etwa einen offenen Brief gegen Rassismus und Diskriminierung, den Fans im August 1989 gemeinsam mit den Spielern Volker Ippig und Peter Knäbel verfassen und den die gesamte Mannschaft unterschreibt, oder die Gründung des Fanzines „Millerntor Roar!“
Wollt Ihr mehr Geschichten aus der Zeit hören, in der der Totenkopf zum FC St. Pauli kam – in Wort, Bild und Ton, von den Menschen, die das Beben damals ausgelöst haben? Dann nichts wie hin ins FC St. Pauli-Museum!
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KIEZBEBEN. Immer Mittwoch und Freitag von 12 bis 20 Uhr, Donnerstag von 12 bis 22 Uhr (KIEZBEBEN-Nächte) sowie Sonnabend und Sonntag von 11 bis 19 Uhr im FC St. Pauli-Museum (Heiligengeistfeld 1). Hin da, es lohnt sich!
Mehr Infos:
Text: 1910 e.V.
Fotos: Archiv 1910 e.V. / Sabrina Adeline Nagel