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Veranstaltungsreihe zum Thema "deutscher Opfermythos" erfolgreich gestartet

Zum Auftakt der Veranstaltungsreihe zum "deutschen Opfermythos" referierte der Historiker Daniel Ristau am Donnerstag (31.8.) im Ballsaal der Südkurve vor ca. 120 interessierten ZuhörerInnen. Hierbei ging es u.a. um die Fakten zum Bombenangriff der Alliierten auf Dresden im Februar 1945, die Opferzahlen und die historische Verklärung. Neben unserer komplett U23 war auch Ewald Lienen anwesend. Er sprach einleitende Worte und äußerte sich auch zur Medienberichterstattung der vergangenen Tage.

Im Februar 2017 hatte auf der Südkurve im Millerntor-Stadion das Banner „Schon eure Großeltern haben für Dresden gebrannt – gegen den doitschen Opfermythos“, das während des Spiels FC St. Pauli gegen Dynamo Dresden gezeigt wurde, für Diskussionen gesorgt. Im Nachgang dessen kam die Idee auf, mithilfe einer Veranstaltungsreihe die kritische Aufarbeitung der Angriffe auf Dresden zu fördern und auf den Grund zu gehen.

Bevor der Historiker Daniel Ristau mit seinem Vortag die Veranstaltungsreihe begann, eröffnete Ewald Lienen den Abend mit seiner Einschätzung zur Thematik. Darüber hinaus äußerte sich der Technische Direktor zu Medienberichten, in denen im vorgeworfen wurde, die Wortwahl des Banners verharmlost zu haben: „Ich freue mich, dass so viele Menschen hier sind. Auch ich war persönlich von den Bombenangriffen auf Dresden betroffen. Die Familie meiner Mutter hat den damaligen Angriff in Dresden miterleben müssen und mein Großvater ist an den Folgen einer schweren Rauchvergiftung gestorben. Als ich dann das Transparent in der Südkurve gelesen habe, war ich erst einmal schockiert. Da ich die Diskussion um den Opfermythos gar nicht kannte, habe auch ich es zunächst als Verhöhnung der Opfer empfunden und ich habe mich damals gefragt: ‚Wie kann so etwas sein?’ Im Nachhinein war es genau der richtige Weg, dass wir innerhalb des Vereins in den Dialog gegangen sind. Dass es dann zu dieser Veranstaltung gekommen ist, um diese Dinge aufzuarbeiten, finde ich sehr begrüßenswert. Das ist weitaus besser, als Aktionen einfach nur zu verurteilen, ohne in den Dialog zu gehen. Sich darüber Gedanken zu machen und sich anzuschauen, was wirklich passiert ist und was die historischen Fakten sind, ist genau richtig, gleichzeitig ist es auch wichtig sich zu fragen, ob man mit dem Spruchband genau das erreicht hat, was man damit ausdrücken wollte.

Wir hatten vor ein paar Tagen eine Veranstaltung, auf der das Banner auch Thema war. Oke Göttlich und Andreas Rettig haben unsere Sichtweise als Verein dargestellt. Ich habe im Nachgang noch darauf hinweisen wollen, dass es sich bei denjenigen, die das Plakat gemacht haben, um teilweise sehr junge Menschen handelt, die sich sicherlich im Ton eindeutig vergriffen haben. Andererseits glaube ich aber, dass sie sich dabei etwas ganz Anderes gedacht haben, als Opfer verhöhnen zu wollen. Vielmehr sollte es eine politische Aussage gegen diejenigen sein, die diesen fürchterlichen Vorfall für ihre rechte Ideologie missbrauchen. Es ist in diesem Zusammenhang geradezu absurd, mir eine Verharmlosung der Plakat-Aktion unterstellen zu wollen. Es ging mir einfach darum, bei aller berechtigter Kritik, auf das politische Engagement junger Menschen hinzuweisen und auch darauf, dass die Stoßrichtung, gegen rechtes Gedankengut, sicherlich richtig war, die Art und Weise der Darstellung aber nicht das widergespiegelt hat, was man sagen wollte.“

Nachdem Ewald Lienen sein Statement abgegeben hatte, trat ein Vertreter von Ultrá Sankt Pauli ans Mikrofon, um die Beweggründe für das Banner, die Hintergründe und ihre Sicht auf die Veranstaltung zu schildern: „Klasse, dass so viele Leute den Weg in den Ballsaal gefunden haben. Was haben wir uns bei dem Banner gedacht? Es gab in der Vergangenheit zwischen Dynamo Dresden und uns einige Spruchbänder die sehr derbe waren. Das alleine war aber nicht unsere Intention. Wir wollten eine politische Thematisierung der Instrumentalisierung der Bombenangriffe auf Dresden hervorrufen. Mit der Ansetzung und dem Datum war für uns klar, dass wir dieses Thema in den Vordergrund heben wollen. Auch bei uns in der Gruppe gab es Diskussionen, ob die Wortwahl so angebracht und richtig war. Definitiv wollten wir den Tod von Menschen nicht verunglimpfen oder gar gutheißen. Ganz und gar nicht.

Nichtsdestotrotz steht Dresden an der Spitze der Instrumentalisierung der Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg. Beispielsweise wird in Hamburg den Opfern der Bomben anders gedacht als in Dresden. Nämlich ohne dass Rechte die Bombardierung für sich nutzen, um ihre rechtsradikale Meinung auf die Straße zu bringen. Das wollten wir hervorheben. Sicherlich hätte man eine andere Wortwahl wählen können. So hat es aber eine Debatte über die Thematik gegeben. Es war in aller Munde und hat aber auch gezeigt, dass bis heute die Mythen und Geschichten zur Bombardierung Dresdens vorhanden sind und wir darauf eingehen müssen. Wir sind dem Verein dankbar, dass man sich zusammengesetzt hat und besprochen hat. So ist die Veranstaltung entstanden und wir haben gezeigt, wir provozieren nicht nur, sondern setzen uns mit dem Thema auf wissenschaftlicher Ebenen auseinander.“

„Die Erzählung von der ‚unschuldigen’, sinnlos zerstörten, militärisch unbedeutenden Stadt“
Daniel Ristau

Anschließend betrat Daniel Ristau das Podium. Um alle anwesenden ZuhörerInnen auf einen Stand zu bringen, referierte der Historiker über die Fakten und bekannten Tatsachen, ehe er sich der Deutung des Angriffes auf Dresden widmete. Zunächst stellte der Historiker fest, dass die Stadt Dresden erst zu einem primären Angriffsziel der Alliierten wurde, als die Kräfte der Sowjetunion 1945 an den ostdeutschen Grenzen standen und im Begriff waren, vorzurücken. In diesem Zuge wurden auch die Städte Berlin und Chemnitz zu Angriffszielen der alliierten Streitkräfte. Weiter berichtete er, dass durch flächendeckende Angriffe die Moral der deutschen Bevölkerung gebrochen werden sollte. So seien bei den Bombenangriffen auf die Stadt Dresden am 13., 14. und 15. Februar 1945 bis zu 25.000 Menschen gestorben. 350.000 haben ihr Zuhause verloren, ergänzte er weiter.

Laut Ristau gehe es im Nachgang der Angriffe besonders um zwei Themen. „Die Erzählung von der ‚unschuldigen’, sinnlos zerstörten, militärisch unbedeutenden Stadt und die Frage nach der Zahl der Opfer“, die eine Mythisierung Dresdens entscheidend vorangetrieben hätten. Als Beispiel erwähnte er den deutschen Dichter und Literaturnobelpreisträger Gerhard Hauptmann, dessen Satz „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens“, die Gefühlslage in Dresden auf den Punkt brachte. Nach Ristau gehe es bei dem Zitat im Kern vor allem darum, dass Dresden als „unschuldige verbrannte Stadt“ angesehen wurde.

 

„Dem NS-Propaganda-Apparat gelang es zudem, gezielt Informationen in der ausländischen Presse, zunächst in den neutralen Ländern, zu streuen.“
Daniel Ristau

Dass der von Gerhard Hauptmann veröffentlichte Text zur Bombardierung Dresdens einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, sei vor allem auf die NSDAP-Gauleitung zurückzuführen gewesen, die bereits wenige Tage nach dem Angriff auf Dresden die NS-Propaganda anlaufen ließ. Dabei erreichten die Maßnahmen nicht nur die eigene Bevölkerung: „Dem NS-Propaganda-Apparat gelang es zudem, gezielt Informationen in der ausländischen Presse, zunächst in den neutralen Ländern, zu streuen“, legte der Vortragende dar. Von dort aus sei die Thematik auf die englische und amerikanische Presse übergeschwappt. Auf diesem Weg sei die Grundlage für den Mythos der unschuldigen Stadt früh geschaffen worden, erklärte er.

Dass Dresden für die NSDAP eine wichtige Stadt war, sich ihre Doktrin auch in Dresden niederschlug und damit der Mythos der unschuldigen Stadt so nicht korrekt ist, erläuterte Ristau im Folgenden. „Denn ganz klar war Dresden eben nicht nur Kulturstadt, sondern seit 1933 auch Gauhauptstadt Sachsens, in der sich zentrale Institutionen und Verwaltungsapparate des nationalsozialistischen Regimes konzentrierten. Eine NSDAP-Ortsgruppe bestand hier seit 1923“, so der Historiker. Weiter habe in Dresden im März 1933 die erste Bücherverbrennung stattgefunden und 1938 die Synagoge gebrannt. Laut Ristau habe ein Dresdener Zeitgenosse bereits damals die Befürchtung geäußert, dass sich diese Gewaltakte bitter rächen würden: „Dieses Feuer kehrt zurück. Es wird einen großen Bogen gehen und wieder zu uns kommen!" 

„Dieses Feuer kehrt zurück. Es wird einen großen Bogen gehen und wieder zu uns kommen!“
Zeitgenosse

Auch infrastrukturell sei Dresden ein wichtiger Standort der NSDAP gewesen. Zulieferer der Rüstungsproduktion, Kasernenkomplexe, weitere Militärstandorte, Häfen und Bahnhöfe machten Dresden in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll. Gerade im Hinblick auf die mit fortlaufender Kriegsdauer anrückende Rote Armee sei die Stadt an der Elbe immer wichtiger geworden, beschrieb Ristau den Stellenwert Dresdens.

Dennoch: Die Zielsetzung der alliierten Bombenangriffe sei es gewesen, „größtmögliche Verwüstung und Verwirrung“ zu stiften. Das Bombardement „traf damit zwar auch einige militärische und politische Schaltzentren, vor allem aber Wohnungen, Sehenswürdigkeiten und Geschäfte, eine Fläche also, die für die Entfachung eines „Feuersturms“ geeignet schien“, klärte er auf. Ristau stellte aber klar, dass es nicht die Briten waren, die mit der Bombardierung städtischer Ballungszentren begonnen hätten, sondern die Deutschen. „Hierfür stehen die Namen von Städten wie Guernica (1937), Warschau (1939), Rotterdam (1940), London (1940/1941), Coventry (1940) und Stalingrad (1942)“, führte er aus um auf den zweiten wichtigen Themenkomplex seines Vortrags überzuleiten: Die Zahl der Opfer.

„Von Beginn an wurde auch der Kampf um die Zahlen propagandistisch geführt: In der Stadt kursierten bereits wenige Tage nach den Angriffen Gerüchte, 100.000 Menschen seien den Angriffen zum Opfer gefallen“, erklärte Ristau einführend. Nach Auswertung von Quellen, Berichten, Brandgutachten und archäologischen Befunden befand eine Historikerkommission im Auftrag der Stadt Dresden, dass 18.000 Tote namentlich identifizierbar wären und die Maximalzahl bei 25.000 lägen, referierte der Historiker.

Derartige Vergleiche relativieren die deutschen Verbrechen an den Juden und die Schuld am Ausbruch des Weltkrieges.

Heutzutage gelte diese Zahl der Opfer als verifiziert. Offensichtlich sei laut Ristau auch, dass die Opfer von Dresden immer wieder instrumentalisiert und in Vergleich zu anderen Kriegsereignissen und Menschheitsverbrechen gesetzt würden. Insbesondere rechte Politiker wie Björn Höcke von der AFD (Vergleich mit Atombombe von Hiroshima) oder die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag („Bomben-Holocaust") nähmen die Bombardierung Dresdens für Ihre Ideologie in Anspruch. Es seien „klassische“ Formen der Relativierung deutscher Schuld, so Ristau. Derartige Vergleiche relativieren die deutschen Verbrechen an den Juden und die Schuld am Ausbruch des Weltkrieges, führt er weiter aus und verurteilt damit sämtliche Vergleiche und Relativierungen.

Doch nicht nur in der politisch rechten Ecke werde die Bombardierung Dresdens auf überzogene Art und Weise genutzt. Aussagen wie „Thanks Bomber Harris“ oder „Bomber Harris do it again“ hätten auch Proteste nach sich gezogen, erläuterte der Historiker. Eben solche Anspielungen habe es auch im Fußball bereits einige Male gegeben. Beispielsweise 2004, als St. Pauli-Fans mit der Aussage „Bomber Harris do it again“ Empörung hervorriefen.  In gleicher Art und Weise habe nun auch das Transparent „Schon Eure Großeltern brannten für Dresden – gegen den doitschen Opfermythos“ gewirkt, kam Ristau auf den Anlass des Vortrages und der Veranstaltung zu sprechen.

„Gleichwohl trifft der Rückgriff genau jenes Dresdner Trauma, die nicht geschlossene Wunde, will natürlich provozieren – doch es befeuert eben auch den Mythos“
Daniel Ristau

„Gleichwohl trifft der Rückgriff genau jenes Dresdner Trauma, die nicht geschlossene Wunde, will natürlich provozieren – doch es befeuert eben auch den Mythos“, analysierte er. Das Banner instrumentalisiere, suggeriere den vermeintlichen Wunsch nach der Vernichtung aus der Luft und spiele den rechten „Verklären“, die behaupten, deutsche Opfer würden verhöhnt, zu. Demzufolge stärke ein solches Spruchband in seiner Radikalität, ohne es zu wollen, den „deutschen Opfermythos“, schlussfolgerte Ristau mit der anschließenden Bitte. „Äußern Sie sich gern weiter auch politisch, meiden Sie aber nach Möglichkeit historische Minenfelder.“

Anschließend hatten die zahlreichen Zuhörer im Ballsaal die Möglichkeit ihre Fragen zu stellen und Meinungen zu äußern. Hierbei kristallisierte sich der Tenor heraus, dass für einige die Intention, den deutschen Opfermythos zu kritisieren und zu thematisieren, genau richtig sei. Die Wortwahl sei jedoch fragwürdig gewesen. Und so schloss die erste Veranstaltung zum Thema Opfermythos nach zwei sehr informativen und interessanten Stunden mit der Erkenntnis, dass es weitere Abende braucht, um dieses komplexe Thema in all seinen Facetten gebührend zu durchdringen.

 

(lf)

Fotos: FC St. Pauli

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