Interview mit Esin Rager: „Nachhaltigkeit ist Teamarbeit“
Montag, 30. Juni 2025, 14:30 Uhr
Nachhaltigkeit sei ein wichtiger Bestandteil des Profi-Fußballs und kein Randthema, betont die im November 2025 scheidende Vize-Präsidentin Esin Rager. Es gehe dabei nicht ausschließlich um Umwelt- oder Ressourcenschutz, sondern auch um Werte, Haltung und langfristige gesellschaftliche Wirkung. Esin Rager betont zudem: „Nachhaltigkeit ist Teamarbeit – und genau das leben wir hier!“
Esin, Du bist seit 2021 Vize-Präsidentin des FC St. Pauli – mit expliziter Verantwortung für Nachhaltigkeit. Wie definierst Du Deine Rolle?
Esin Rager: Meine Aufgabe sehe ich darin, Nachhaltigkeit nicht als Randthema zu behandeln, sondern als integralen Bestandteil professionellen Fußballs und unserer wirtschaftlichen Arbeit. Ich bringe einen systemischen Blick ein, etwa bei der Verankerung der Gemeinwohlbilanz (GWB). Sie schafft eine 360Grad-Perspektive auf unser Handeln, sodass wir nicht nur Maßnahmen formulieren, sondern sie auch umfassend prüfen und weiterentwickeln können. Dieser Blick, den wir in den letzten Jahren in allen Abteilungen des Vereins trainiert haben, wird auch durch die Arbeit von Franziska Altenrath geschärft, die als Leiterin der Abteilung Strategie, Veränderung, Nachhaltigkeit ab sofort auch regelmäßig als Gast an unseren Präsidiumssitzungen teilnehmen wird.
Der aktuelle Nachhaltigkeitsbericht 2023/24 ist der erste offizielle, angelehnt an die European Sustainability Report Standards und GWB-Maßgaben. Welche Kernbotschaften vermittelt er?
Esin Rager: Der Bericht zeigt: Wir steuern unsere ökologischen und sozialen Aktivitäten systematisch – von Klimaschutz bis Awareness. Er deckt 90 Prozent unserer Wertschöpfung ab und orientiert sich an doppelt wesentlichen Kriterien. Wir legen Offenheit an den Tag, formulieren ambitionierte Ziele und prüfen uns unbestechlich – intern wie extern.
Du sprichst den systemischen GWB-Ansatz an. Warum ist das wichtig für den Profi-Fußball?
Esin Rager: Weil Profi-Fußball Ressourcen bündelt – finanziell, personell, kommunikativ. Wenn wir hier Verantwortung zeigen, entfaltet dies große Wirkung: Es verändert Geschäftsmodelle, beeinflusst Fans, Sponsoren, Stadien und Infrastruktur. Mit der Gemeinwohlbilanz zeigen wir, dass wir uns selbst kritisch hinterfragen – vom Merchandise bis zur Stadionwurst.
Welche ökologischen Maßnahmen stechen heraus?
Esin Rager: Wir haben einen Transformationsplan für Scope 1 und 2 Emissionen entwickelt mit Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienzmaßnahmen. Außerdem kaufen wir nachhaltige Energie ein und optimieren unser Catering. Ein klares Signal war die Umstellung der Stadionwurst (vegane und nichtvegane) auf 100 Prozent Bioqualität seit der Saison 2023/24. In diesem Sommer installieren wir eine Solaranlage in Regenbogenfarben auf dem Dach des Stadions, – für uns die perfekte Verbindung aus ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit.
Auch Soziale Nachhaltigkeit ist ein zentrales Thema des Vereins. Wie manifestiert sich das?
Esin Rager: In mehreren Dimensionen. Wir schaffen Diversität und Inklusion durch barrierefreie Angebote: eine hohe Stehplatzquote (57,3 Prozent vs. Liga-Durchschnitt ~30 Prozent) sowie Rabatte für Studierende, Geflüchtete und Rollstuhlfahrer*innen. Awareness-Strukturen wurden professionell etabliert – mit dem Paulin Awareness-Team seit der Saison 2023/24. Auch im Bereich Suchtprävention machen wir Fortschritte.
Du hast die externe Prüfung hervorgehoben: Wie konkret wirkt sich das aus?
Esin Rager: Die Gemeinwohlbilanz wird unabhängig extern geprüft. Wir lassen uns messen, um unsere Stärken und Schwächen transparent herauszuarbeiten. Es geht uns nicht um die höchstmögliche Punktzahl, sondern um Transparenz und Weiterentwicklung. Wir wissen auch, dass wir uns noch verbessern müssen – und dies immer im Spannungsfeld zwischen Profi-Sport, Großveranstaltungen und Nachhaltigkeit. Das bedeutet, dass wir Dinge in Zusammenhängen verhandeln müssen. Wir ringen täglich um die besten Lösungen. Es gibt kein einfaches Falsch oder Richtig.
Du sagst, Zeit und Ressourcen seien entscheidend. Wie sieht das in der Praxis aus?
Esin Rager: Der Bereich Strategie, Veränderung und Nachhaltigkeit (SVN) ist operativ verankert und arbeitet mit allen Abteilungen eng zusammen. Er verfügt über ein eigenes Budget und hat Vetorecht bei wichtigen Entscheidungen. Wir haben Vollzeitstellen für Nachhaltigkeit, die quartalsweise Fortschrittsberichte erstellen und die operativen Teams in jedem Bereich unterstützen. Nachhaltigkeit ist kein Extra, sondern eingebundene Kernverantwortung (hier der Nachhaltigkeitsbericht 2023/24).
Das kostet auch Geld…
Esin Rager: Es ist sehr gut investiertes Geld und zahlt sich aus in langfristiger Resilienz, unserer Reputation, regionaler Wertschöpfung sowie Partner- und Mitgliederbindung. Die Mittel werden bewusst nach Nachhaltigkeitskriterien gesteuert, z.B. fair und ökologisch nachhaltig produzierten Textilien.
Was sind die nächsten Schritte?
Esin Rager: Wir planen neben der Solaranlage zukünftig auch Regenwasser-Recycling sowie die Reduktion weiterer Scope 3 Emissionen. Hierfür etablieren wir zum Beispiel infrastrukturelle und kommunikative Maßnahmen im Bereich der Fanmobilität.
Warum ist Nachhaltigkeit so wichtig für den Profi-Fußball?
Esin Rager: Weil es zeigt: Der Fußball kann mehr sein als kommerzieller Sport. Er kann Werte transportieren, eine Transformation anstoßen und Raum auch für gesellschaftliche Dialoge und Denkanstöße ermöglichen. Wenn ein Verein wie der FC St. Pauli es vorlebt, Zeit und Budget zu investieren, wächst der Ansporn für andere, nachzuziehen. Nachhaltigkeit ist auch im Profi-Fußball elementar für die Zukunftsfähigkeit.
Zum Abschluss: Gibt es etwas, das Dir besonders am Herzen liegt?
Esin Rager: Ja, unbedingt. Der Fortschritt, den wir beim FC St. Pauli in Sachen Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung erreicht haben, ist kein Zufallsprodukt – sondern das Ergebnis von harter Arbeit, Engagement und Teamgeist. Ich möchte mich ausdrücklich bei allen Kolleg*innen aus allen Abteilungen bedanken. Ohne ihren unermüdlichen Einsatz, ihre Fachlichkeit und ihre Leidenschaft wäre vieles nicht möglich. Ich übergebe das Staffelholz beim FC St. Pauli im November an die Kolleg*innen des Fachbereichs Strategie, Verantwortung und Nachhaltigkeit und werde weiter als aktives Mitglied aufmerksam und beratend an ihrer Seite stehen
Ebenso gilt mein großer Dank dem gesamten Präsidium und dem Aufsichtsrat, das diesen Weg mitträgt, Diskussionen führt, Entscheidungen absichert – und damit zeigt, dass nachhaltiges Handeln beim FC St. Pauli von ganz oben mitgetragen wird. Und nicht zuletzt geht ein herzliches Dankeschön an die vielen Ehrenamtlichen, die sich Woche für Woche in den unterschiedlichsten Bereichen einbringen – ob bei Spieltagen, in Initiativen oder in der Stadtteilarbeit. Dieses Engagement ist das Rückgrat unseres Vereins und das, was den FC St. Pauli einzigartig macht. Nachhaltigkeit ist Teamarbeit – und genau das leben wir hier!
Vielen Dank für das Gespräch, liebe Esin, und viel Kraft für Deine weiteren Projekte! Wir freuen uns sehr, dass Du auch nach November als aktives Mitglied und enge Beraterin an unserer Seite bleibst.
(pg)
Fotos: FC St. Pauli