„Strukturen brechen weg“ – Projekt Seehilfe e.V. wieder auf Sizilien
Dienstag, 16. April 2019, 12:30 Uhr
Etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem Projekt „Kick the Borders“ sind unser Partner vom Projekt Seehilfe e.V. wieder nach Sizilien gefahren. Dieses Mal ging es aber nicht um Fußball, sondern darum, humanitäre Hilfe vor Ort zu leisten, weil sich die Gegebenheiten in Italien grundlegend verschlechtert haben. Wir sprachen mit Philipp Leusbrock von Seehilfe über seine Eindrücke.
Moin Philipp, unser gemeinsames Fußballcamp mit Geflüchteten und italienischen Jugendlichen auf Sizilien ist mittlerweile sechs Monate her. Derzeit seid Ihr mit dem Projekt Seehilfe e.V. wieder vor Ort. Wie ist die aktuelle Situation vor Ort?
Kurz nach unserem Fußballcamp hat der italienische Innenminister Salvini ein Dekret erlassen. Das hat die Situation für Geflüchtete in Italien grundlegend verändert. Jetzt ist alles noch viel schlechter als davor: Der humanitäre Schutzstatus ist quasi gestrichen worden. Nur wer einen unbefristeten Arbeitsvertrag vorweisen kann, bekommt einen Aufenthaltstitel. Einen unbefristeten Vertrag haben aber nicht mal die Sizilianer selbst. Unterkünfte für Geflüchtete werden nicht weiterfinanziert und in der Folge reihenweise geschlossen. Die Menschen landen auf der Straße oder kommen in andere Unterkünfte in weitendlegende Gegenden. Viele, die sich über Jahre ein Netz aufgebaut haben, vielleicht sogar einen Job hatten, müssen jetzt von vorne anfangen. Das frustriert. Für alle, die nun obdachlos geworden sind, heißt das juristisch, dass sie entweder das Land auf eigene Kosten verlassen müssen oder auf einen Schlag alleine für sich sorgen müssen. Beides ist eigentlich unmöglich.
Wie sieht es mit den Teilnehmenden aus?
Ein paar Jungs sind noch in Syrakus, wo unser Fußballcamp stattgefunden hat, und versuchen das Beste aus ihrer Situation zu machen. Einer der Teilnehmer hatte einen schweren Verkehrsunfall, als er auf dem Weg zur Arbeit war. Sein Bein war mehrfach gebrochen. Er muss jetzt nochmal operiert werden, aber es geht langsam bergauf. Das Glück für ihn ist, dass er einen Arbeitgeber hat, der total hinter ihm steht und ihn weiterbezahlt, obwohl er gerade nicht arbeiten kann. Der Coach unserer Mannschaft, Lamin, ist im Januar Opfer eines rassistischen Übergriffs geworden. Ein Rassist hat ihm nach der Arbeit aufgelauert, ihn beschimpft und mit einem Messer bedroht. Zum Glück konnte Lamin schnell genug flüchten. Der Angriff ist aber nur ein Beispiel für den politischen und gesellschaftlichen Wandel. Das hat uns auch Lucien berichtet. Er arbeitet als Kulturmittler im Centro Astalli, einer Anlaufstelle für Geflüchtete in Catania. Rassismus habe er schon immer erlebt. Jetzt sei es aber 'chic', eine rechte Gesinnung auch nach außen zu tragen. Andere TeilnehmerInnen sind nicht mehr in Syrakus, sondern sind in andere Teile Italiens gebracht worden oder gegangen, einige haben Italien aber auch verlassen und sind jetzt zum Beispiel in Deutschland.
Wie geht es für Euch und die Menschen vor Ort jetzt weiter?
Aus unseren Fußballcamp sollte eigentlich ein Team entstehen, dass in der regionalen Liga mitspielt, um den Austausch zwischen ItalienerInnen und Geflüchteten auszubauen. Den Plan mussten wir aber erstmal auf Eis legen, die Lage ist einfach zu unsicher. Die Idee bleibt aber bestehen! Die Situation ist gerade ziemlich unübersichtlich, viele Strukturen brechen weg. Die Menschen, die ohne Papiere sind, schlagen sich irgendwie durch und arbeiten z.B. illegalisiert auf Feldern. Genau hier setzt unsere Arbeit jetzt wieder an. Wir unterstützen die Arbeiter auf den Feldern, sie leben unter menschenunwürdigen Bedingungen und sind völlig entrechtet.
Wie nimmst Du die Entwicklung wahr?
Das ist total absurd. Wir unterstützen Menschen mit Lebensmittel, die ohne Verträge arbeiten und einen Hungerlohn bekommen, damit wir möglichst billiges Gemüse im Supermarkt kaufen können. Wir setzen jedoch auch den integrativen Gedanken fort. In Catania haben wir letzte Woche Montag ein digitales Klassenzimmer aufgebaut. Dort werden Sprach- und Informatikkurse stattfinden. Man muss in langfristige Ideen investieren, denn nur an Symptomen zu doktern, erscheint uns nicht richtig. Wir möchten helfen, dass die Leute unabhängiger werden und da sind Sprache und Ausbildung das A und O. Außerdem werden wir in Catania eine ambulante Poliklinik unterstützen, die kostenfreie Behandlungen anbieten. Dort werden aber auch Menschen begutachtet, die Spuren von Folter oder z.B. weibliche Genitalverstümmelung tragen. Das zu dokumentieren, ist unfassbar wichtig, denn diese Gutachten spielen im Asylverfahren eine tragende Rolle.
Wie kann man Eure Arbeit unterstützen?
Zum einen freuen wir uns immer über Geldspenden. Zum anderen haben wir einen riesigen Batzen Arbeit vor uns: Wer sich langfristig bei uns im Verein engagieren möchte, kann sich jederzeit bei uns melden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Fotos: Ben Wessler